Michail Gorbatschow: "Solange es Atomwaffen gibt, besteht die Gefahr eines Atomkriegs"
von Leo Ensel
"In unserer Zeit gibt es für keine einzige Herausforderung oder Bedrohung der Menschheit im neuen Jahrtausend eine militärische Lösung. Und kein einziges großes Problem kann durch die Bemühungen eines einzelnen Landes oder auch nur einer Gruppe von Ländern gelöst werden."
Mit diesem Statement, das an Klarheit nichts vermissen lässt, meldet sich Michail Gorbatschow zurück. Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, der sich seit Beginn der Corona-Pandemie fast ausschließlich im Krankenhaus aufhält, veröffentlichte am 2. August einen ausführlichen Essay in der renommierten Zeitschrift Россия в глобальной политике (Russia in Global Affairs) und es ist sicher kein Zufall, dass dieser Essay ausgerechnet im Vorfeld des 30. Jahrestages des Putschs vom 19. August 1991 erschien.
"Perestroika verstehen – Neues Denken verteidigen" lautet der Titel des Aufsatzes, der dreierlei deutlich macht: Michail Gorbatschow bleibt, obwohl seit längerem gesundheitlich angeschlagen, auch mit über 90 Jahren publizistisch aktiv. Er kämpft, zweitens, um die Deutungshoheit seines politischen Erbes und er nimmt bezogen auf die Gegenwart unmissverständlich Stellung gegen den aktuellen nahezu allseitigen fatalen Rückfall in das alte Denken, sprich: gegen die Militarisierung der Weltpolitik und die Tendenzen zu unilateralem Handeln. Dabei – wir greifen vor – plädiert Gorbatschow nicht nur ein weiteres Mal für die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen und anderer Massenvernichtungsmittel, er macht zugleich deutlich, dass selbst dieser Schritt angesichts der bereits angehäuften Unmengen sogenannter "konventioneller" Waffensysteme, die in ihrer Zerstörungskraft an die nuklearer Waffen längst heranreichen, nicht ausreichend wäre. Eine Überwindung kann, so seine Überzeugung, nur in einem ethischen Ansatz wurzeln, der über die strikte Einhaltung des Völkerrechts noch hinausgeht.
Aber der Reihe nach.
"So konnte man nicht weiterleben!"
Gorbatschow lässt zunächst in einem breiten Panorama nochmals die Geschichte der Perestroika Revue passieren und setzt sich dabei mit den Vorwürfen auseinander, die ihm bis auf den heutigen Tag im eigenen Lande gemacht werden: "Fehlen eines klaren Plans", "Naivität", "Verrat am Sozialismus". Er kontert, diese Menschen würden über ein sehr kurzes Gedächtnis verfügen. Sie hätten entweder vergessen oder wollten sich nicht daran erinnern, wie die moralische und psychologische Situation in der sowjetischen Gesellschaft im Jahr 1985 aussah.
"Die Menschen forderten Veränderungen. Alle – sowohl die führenden Politiker als auch die einfachen Bürger – spürten, dass mit dem Land etwas nicht stimmte. Das Land versank immer tiefer in Stagnation. Das Wirtschaftswachstum war praktisch zum Stillstand gekommen. Das geistige und kulturelle Leben wurde von ideologischen Dogmen geknebelt. Der bürokratische Apparat beanspruchte die totale Kontrolle über die Gesellschaft, konnte aber die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Menschen nicht gewährleisten. Es genügt, sich daran zu erinnern, was damals in den Läden vor sich ging. Die große Mehrheit war der Meinung, dass 'wir unmöglich so weiterleben können'. Diese Worte wurden nicht in meinem Kopf geboren – sie waren in aller Munde."
Dies war das höchst prekäre Erbe, vor das sich die neue Sowjetadministration gestellt sah, die im Frühjahr 1985 an die Macht kam. Unter solchen Bedingungen wäre es seltsam gewesen, nach zwei Jahrzehnten der Stagnation einen ausgearbeiteten "klaren Plan" für die anstehenden gigantischen Reformen aus dem Zylinder zu zaubern.
"Das System, das wir geerbt hatten, basierte auf der totalen Parteikontrolle. Nach Stalins Tod gab das von ihm geschaffene Regime die Massenrepressionen auf, was aber nichts an seinem Wesen änderte. Das System traute den Menschen nicht, glaubte nicht an die Fähigkeit der Menschen, ihre eigene Geschichte zu gestalten. Aber wir, die Initiatoren der Perestroika, wussten, dass die Menschen, sobald sie frei sind, die Initiative ergreifen und kreative Energie mobilisieren würden."
Das Leitmotiv, der rote Faden, der Perestroika sei es daher gewesen, die Menschen zu befreien und sie zu Herren ihres eigenen Schicksals und ihres Landes zu machen. Die Perestroika, so Gorbatschow, sei demnach ein humanistisches Großprojekt gewesen: Der Bruch mit der Vergangenheit, in der die Menschen jahrhundertelang einem autokratischen und dann totalitären Staat unterworfen waren, und der Durchbruch in die Zukunft.
Das Neue Denken
Die Umgestaltung sei nicht nur aus innenpolitischen, sondern auch aus außenpolitischen Gründen vorangetrieben worden. Mitte der 1980er Jahre sah sich die Welt mit einer rapide wachsenden Gefahr eines Atomkriegs konfrontiert. Die internationale Gemeinschaft befand sich in einer Sackgasse, aus der niemand einen Ausweg sah. Die Konfrontation zwischen Ost und West schien endlos zu sein. "Natürlich wollte niemand einen Atomkrieg, aber niemand konnte garantieren, dass er nicht ausbrechen würde, sei es durch technisches Versagen, Fehlalarm oder andere Unfälle." (Es sei bei dieser Gelegenheit daran erinnert, dass es nur der Zivilcourage des diensthabenden Offiziers, Stanislaw Petrow, zu verdanken ist, dass es nicht bereits am 26. September 1983, anderthalb Jahre vor der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU, infolge eines Fehlalarms im sowjetischen Raketenabwehrzentrum zum Dritten Weltkrieg kam.)
"Die Militarisierung der Wirtschaft war für alle Länder, einschließlich der USA und ihrer Verbündeten, eine Belastung. Aber für unser Land forderte sie einen besonders hohen Tribut. In manchen Jahren erreichten die Militärausgaben insgesamt 25-30 Prozent des Bruttosozialprodukts und waren damit fünf- bis sechsmal höher als die Ausgaben der USA oder anderer NATO-Länder. Der militärisch-industrielle Komplex absorbierte kolossale Ressourcen, Energie und Kreativität des qualifiziertesten Personals, bis zu 90 Prozent der Wissenschaftler waren für die Verteidigung tätig. Aber die Superaufrüstung machte die Sicherheit des Landes nicht zuverlässiger. Und die Menschen spürten das und waren ständig in Sorge. Überall, wo ich hinkam, sagten sie zu mir: 'Michail Sergejewitsch, tu alles, damit es keinen Krieg gibt!'"
Auch außenpolitisch konnte es also so nicht mehr weitergehen. Die Konsequenz war, so Gorbatschow, die Entwicklung eines, des Neuen Denkens, um nichts weniger als die Grundlagen der Weltpolitik zu verändern. Dessen Quellen lagen in Gedanken von Albert Einstein und Bertrand Russell, in der Antikriegsbewegung der 1950er und 1960er Jahre, in der 'politischen Reue' von John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, die während der Kubakrise den Mut fanden, sich vom Abgrund zurückzuziehen, sowie in dem von der Olof-Palme-Kommission entwickelten Konzept der "gemeinsamen Sicherheit". Die Sowjetunion war das weltweit erste Land, das dieses Neue Denken zur Maxime staatlichen Handelns erhob. Heute, in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts ist es angesichts der erneut sehr angespannten Weltlage überlebensnotwendig, sich die Grundelemente erneut vor Augen zu führen:
"Im Mittelpunkt des Neuen Denkens stand die These vom Vorrang der universellen Interessen und Werte in einer zunehmend integrierten, interdependenten Welt. Das Neue Denken verleugnet nicht nationale, Klassen-, Unternehmens- und andere Interessen. Aber es rückt das Interesse an der Erhaltung der Menschheit in den Vordergrund, um sie vor einem drohenden Atomkrieg und einer Umweltkatastrophe zu bewahren. Wir haben uns geweigert, die weltweite Entwicklung als einen Kampf zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftssystemen zu betrachten. Wir haben unser Sicherheitskonzept überarbeitet und uns die Entmilitarisierung der Weltpolitik zur Aufgabe gemacht. Daraus ergibt sich der Grundsatz der angemessenen Verteidigungsfähigkeit auf niedrigerem Rüstungsniveau. Im Allgemeinen bedeutete das Neue Denken in der Außen- wie in der Innenpolitik, dass man versuchte, nach dem normalen menschlichen Menschenverstand zu denken und zu handeln."
Das Neue Handeln
Der Rezensent kann sich an dieser Stelle einen eigenen Kommentar nicht verkneifen: Wenn auch nur ein Fakt gegen die – im Westen neuerdings wieder so beliebte – Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Sowjetgesellschaft sprechen sollte, dann dies: Die Sowjetgesellschaft war letztlich in der Lage, sich – unter großen Mühen und immensen Geburtswehen, versteht sich – selbst zu reformieren, das diktatorische Regime abzuschütteln und sich zu einer grundlegend neuen Politik im Inneren durchzuringen und in der Außen- und Sicherheitspolitik sogar einen revolutionären Ansatz zu entwickeln, der auf der Höhe des Atomzeitalters und dem Rest der Welt um Jahrzehnte voraus war. Der Nationalsozialismus dagegen musste von außen mit vereinten Kräften restlos vernichtet werden. Er hinterließ nichts als Trümmer und Gebirge von Leichen!
Die Früchte der praktischen Umsetzung des Neuen Denkens, des Neuen Handelns also, waren kurz gefasst: Der INF-Vertrag, der die vollständige Eliminierung der gefährlichsten Waffengattung, der landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen beschloss – er ist bekanntlich seit dem 2. August 2019 auf Betreiben der USA Makulatur –, der vor 30 Jahren, am 31.07.1991 unterzeichnete START I-Vertrag, der die strategischen Nuklearwaffen drastisch reduzierte, die Zerstörung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit, der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan und die 'Sinatra-Doktrin', die es den Staaten des Warschauer Paktes gestattete, künftig ihren eigenen Weg zu gehen, Mauerfall und deutsche Vereinigung, kurz: die Beendigung des (ersten) Kalten Krieges und damit die drastische Reduzierung der akuten Atomkriegsgefahr.
In seiner Rede im Dezember 1988 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen fasste Michail Gorbatschow seine Vision einer Weltordnung, die im Sinne des Neuen Denkens auf den universellen menschlichen Werten beruhe, in folgendem Satz zusammen: "Unser Ideal ist eine Weltgemeinschaft von Rechtsstaaten, die ihre Außenpolitik dem Recht unterordnet."
Die Militarisierung der Weltpolitik überwinden
Es ist leider anders gekommen.
Die Sowjetunion wurde nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 auf Betreiben Boris Jelzins und gegen den erklärten Willen Gorbatschows, der bis zum Schluss für einen neuen Unionsvertrag gekämpft hatte, mit Jelzins Unterschrift und der der KP-Vorsitzenden der Ukraine und Weißrusslands am 8. Dezember 1991 während eines clandestinen Treffens in einer Datscha im Westen von Belarus aufgelöst.
Laut Gorbatschow wurde damit die Politik der Perestroika unterbrochen, gescheitert sei sie aber nicht. Die bleibenden Ergebnisse sind für ihn: "Das Ende des Kalten Krieges, beispiellose nukleare Abrüstungsabkommen, Erwerb von Rechten und Freiheiten – Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit, das Land zu verlassen, alternative Wahlen, Mehrparteiensystem. Und vor allem haben wir den Veränderungsprozess so weit vorangetrieben, dass er nicht mehr rückgängig zu machen war."
In der Außenpolitik war es laut Gorbatschow der Triumphalismus des amerikanischen Establishments, das, anstatt den gemeinsamen Sieg über den Kalten Krieg zu erklären, nun den "Sieg der USA im Kalten Krieg" feierte. Dieser Triumphalismus verbreitete sich schnell über weite Teile der westlichen Welt. Gorbatschow:
"Dies ist die Wurzel der Fehler und Misserfolge, die die Grundlagen der neuen Weltpolitik untergraben haben. Triumphalismus ist ein schlechter Ratgeber in der Politik. Unter anderem ist er unmoralisch. Der Wunsch, Politik und Moral zu verbinden, ist eines der Grundprinzipien des Neuen Denkens. Ich bin überzeugt, dass die Lähmung des politischen Willens, von der Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft heute sprechen, nur auf der Grundlage eines ethischen Ansatzes überwunden werden kann."
Dies mag nur in den Ohren naiver Leute naiv klingen. Gorbatschow zeigt jedoch plausibel, dass selbst die Einhaltung des Völkerrechts allein heute nicht mehr ausreicht:
"Die Beziehungen der Staaten in der globalen Welt müssen nicht nur durch das Völkerrecht geregelt werden, sondern auch durch bestimmte Verhaltensregeln, die auf den Grundsätzen der universellen menschlichen Moral beruhen. Diese 'Verhaltensregeln' sollten Zurückhaltung, die Berücksichtigung der Interessen aller Parteien, Konsultationen und Mediation im Falle einer Verschärfung der Lage und drohender Krisen beinhalten. Ich bin überzeugt, dass viele Krisen hätten vermieden werden können, wenn solche Verhaltensregeln für die unmittelbar Beteiligten und vor allem für die externen Akteure gegolten hätten."
Und auch was die Atomwaffen und anderen Massenvernichtungsmittel angeht, denkt Gorbatschow weiter.
"Es kann kein anderes Endziel geben als die Abschaffung der Atomwaffen. Aber das Gerede von einer Welt ohne Atomwaffen – und alle Länder, einschließlich der USA, geben weiterhin Lippenbekenntnisse zu diesem Ziel ab – wird eine leere Phrase bleiben, wenn die derzeitige Militarisierung der Weltpolitik und des politischen Denkens nicht überwunden wird. Heute ist es besonders relevant, dass keine Seite militärische Überlegenheit anstreben darf. Stellen wir uns vor, die Welt hat in zehn oder fünfzehn Jahren keine Atomwaffen mehr. Was wird übrig bleiben? Berge von konventionellen Waffen, einschließlich der neuesten Typen, die in ihrer Stärke oft mit Massenvernichtungswaffen vergleichbar sind. Der Löwenanteil dieser Waffen befindet sich in den Händen eines Landes, der USA, die sich damit einen überwältigenden Vorteil auf der Weltbühne verschaffen. Eine solche Situation würde den Weg zur nuklearen Abrüstung blockieren."
Sätze, denen nicht zuletzt im Umfeld der Jahrestage der amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki eine beklemmende Aktualität zukommt. Und man kann nur hoffen, dass diese Grundgedanken sowohl in der offiziellen Politik als auch auf der Ebene der Zivilgesellschaften endlich auf fruchtbaren Boden fallen. Bislang sieht es leider nicht danach aus. Fast sämtliche Parteien und Organisationen, die sich der Rettung des Planeten verschrieben haben, sind nach wie vor auf dem rüstungspolitischen Auge blind!
Der 90-jährige Michail Gorbatschow ist vermutlich auch heute noch seiner Zeit zu weit voraus.
PS: Übrigens, ein kleiner Test: Recherchieren Sie doch mal kurz via Google, in wie viel deutschen Medien bislang über Gorbatschows Essay berichtet wurde! So viel zur Wertschätzung, die 'unser Gorbi' in den Medien des wiedervereinten Deutschlands – das es ohne ihn nicht gäbe – noch genießt …
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